Jetzt müssen w i r flüchten...
Im März 1945 an einem Abend um etwa 8:30 Uhr klopfte der Wachtmeister aus unserem Dorf an die Haustür um meiner Mutter mitzuteilen, dass wir am nächsten Morgen fliehen müssten.
Nun war die Aufregung groß, denn dass wir uns den Leuten, die mit ihren Wagen an uns vorbeizogen anschließen sollten war unvorstellbar! Wir sollten alles zurücklassen!
Die meisten Bauern hatten schon vorgesorgt und einen Ackerwagen mit einem Dach versehen. Jeder glaubte, dass die Flucht nur ein paar Tage andauern würde.
Meine Mutter machte sich Sorgen um ihre gute Wäsche, die sie für die Zukunft aufbewahrt hatte. Diese mit auf die Flucht zu nehmen war ihr doch zu schade. Sie suchte sich große Pappkartons, legte die Wäsche hinein, holte eine Schaufel und grub sie in einem unser Schuppen ein. Sie sagte: „Für die paar Tage, bis wir wieder kommen, nimmt die Wäsche keinen Schaden. Ansonsten wird sie gestohlen!" Für uns alle packte sie nur die nötigsten Sachen zusammen.
Mein Bruder, meine Cousine und ich durften uns in der Speisekammer Eingemachtes aussuchen, worauf wir Appetit hatten. Offensichtlich glaubte meine Mutter nicht daran, dort noch etwas bei unserer Rückkehr vorzufinden. Ich bekam mein Lieblingsgericht - ein Weckglas mit eingemachten Pflaumen. Nur an diesem Abend wollten sie mir nicht so recht schmecken. Die Aufregung war zu groß.
Auch ans Schlafen war in der letzten Nacht in der Heimat nicht zu denken. Meine Sorge war: was wird nun aus unserem Hund Möpper, mitnehmen durften wir ihn nicht...
Am nächsten morgen ging es bei uns sehr hektisch zu. Die ersten Bauern kamen schon aus dem Dorf. Mein Onkel hielt vor unserer Tür mit dem Wagen und wir durften zusteigen. Er befestigte noch einige Sachen von uns außerhalb des Wagens. Als alle Wagen zusammen waren hielt der Wachmeister den endlosen Treck auf der Straße an und wir durften mit unseren Wagen mit hinein fahren. Jetzt gehörten wir auch zu diesem Treck.
Die Straße war in den letzten Tagen so überlastet, dass es nur noch schrittweise voran ging. Ich erinnere mich noch, dass wir sehr große Angst hatten, wenn wir von den Flugzeugen angegriffen wurden. In diesen Fällen hieß es: raus aus dem Wagen und auf die umliegenden Felder laufen. Hier haben wir uns dann auf den Boden gelegt. Nach dem Angriff ging es wieder zurück zu dem Wagen.
Mein Onkel, der schon ein paar Tage die Pferde gelenkt hatte, war inzwischen schon so übermüdet, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Urplötzlich war er verschwunden! Er hatte sich schlaftrunken einfach auf den Weg gemacht ... Zum Glück hat ein Bekannter ihn angesprochen, an dem er vorbeilief, wo er denn hin wollte. Seine Antwort: Nach Hause und die Tiere füttern! Der Bekannte sah, was mit meinem Onkel los war, und überedete ihn, sich in seinen Wagen zu legen und erst einmal auszuschlafen. Danach kam er wieder zu uns, als wäre nichts gewesen.
Ein Pflegesohn von ihm übernahm nun die Pferde. Auch er konnte nicht lange die Pferde lenken, er bekam dann epileptische Anfälle und fiel vom Wagen.
Wieder wurde gewechselt und ein Cousin von mir übernahm die Zügel. Da es nur in stop and go- Tempo weiter ging, schlief er immer wieder ein, zum Weiterfahren wurde er dann geweckt.
An dem Stettiner Haff angekommen begannen die ersten Schwierigweiten mit den Pferden. Hier hatte man eine Hilfsbrücke errichtet. Die Pferde waren noch recht jung und scheuten die Brücke. Mit Hilfe fremder Leute, die versuchten, die Pferde zu beruhigen, gelang zum Glück die Überfahrt. Leider war dabei bei einem Pferd das Zaumzeug gerissen und es musste notdürftig repariert werden. Das ging natürlich nicht so schnell, aber der Treck war in Eile! Natürlich musste auch genau in diesem Moment ein Offizier vorbeikommen, der meinen Onkel beschimpfte und bedrohte: "Wenn ich zurückkomme und Sie sind hier noch nicht weg, werde ich sie erschießen!" Heute glaube ich, dass er nie zurückgekommen wäre, denn auch er war auf der Flucht! Mit provisorisch repariertem Zaumzeug ging die Fahrt weiter.
Es gab eine Grundregel, die hieß, immer auf der rechten Straßenseite bleiben. Die linke Seite war dem flüchtenden Militär vorbehalten.
Einmal hörte man von weitem Schusswaffen. Eine Familie war wohl in Panik geraten und hatte es gewagt die anderen Flüchtenden zu überholen auf der linken Seite! Die herannahenden Soldaten stiegen aus ihrem Fahrzeug, nahmen die Pferde der flüchtenden Leute am Zaumzeug und lenkten den Wagen an einen Abhang. Der Wagen stürzte mit den Leuten und den Pferden herab! Wir hörten nur noch ein lautes Aufschreien. Für sie war hiermit die Flucht beendet.
In einigen Ortschaften hatten die Leute für die Flüchtlinge eine Suppe gekocht und verteilten sie. Wir waren immer froh, wenn wir mal etwas warmes zu Essen bekamen. Ich erinnere noch, dass wir einmal in einem Wald halten mussten. Diese Gelegenheit wurde zum Kochen wahrgenommen. Drei dicke Äste wurden aufgestellt und an diesen ein Kochtopf gehängt. Meine Tante hatte vorsorglich noch etwas zu Essen mitgenommen. Die Tüten, in denen Haferflocken, Reis, Nudeln, Salz und Zucker waren, hatten nicht gehalten und alles war vermischt. Dieses Gemisch kam mit Wasser in den Kochtopf und wurde gekocht. Mir hat es trotz Hunger nicht geschmeckt, denn beim Kochen war auch noch Rauch in den Topf geschlagen...
Schlussendlich waren wir nicht nur ein paar Tage, sondern mehrere Wochen im Treck unterwegs...